Vom 15.06.22 – 19.06.2022 findet das Online-Seminar „Anders leben und lieben – Ein Seminar für schwule und bisexuelle Männer“ mit den Referenten Christian Horras und Achim Horras
statt. Wir haben mit ihnen ein Interview geführt und folgendes erfahren:
1. Mit welchen Entwicklungsschritten werden Schwule konfrontiert?
Ich möchte die Frage gerne indirekt beantworten, indem ich erkläre, warum Schwule überhaupt andere Entwicklungsschritte gehen müssen als heterosexuelle Männer. Dabei ist mir wichtig vorab zu sagen, dass die folgenden Ausführungen auch für Lesben, Transgender und vielleicht auch generell für Menschen gelten können, die einer Minderheit angehören.
Und wichtig ist mir auch klarzustellen, dass es „den schwulen Mann“ ja gar nicht gibt. Denn jeder schwule Mann ist ein einzigartiges Individuum, das seine ganz persönliche ureigene Entwicklung geht. Gleichzeitig kann man von Parallelen sprechen, die Homosexuelle in Bezug auf ihre individuellen Entwicklungsschritte gehen müssen, da sie eben auch eine Gemeinsamkeit auszeichnet: nämlich, dass sie als Minderheit in einer heteronormativen Welt leben.
Zu entdecken, dass die eigene sexuelle Orientierung eine andere ist als die der Mehrheit der Gesellschaft, kann zunächst einmal eine große Verunsicherung im Selbstbild auslösen. Je nachdem, wie das Umfeld Andersartigkeit bewertet und die Bezugspersonen dazu stehen, entsteht ein positives oder negatives Bild von Homosexualität, das dann verinnerlicht wird. Die Psychologie spricht von Internalisierung. Das heißt, der Mann, der entdeckt, dass er schwul ist, kann zu diesem Zeitpunkt bereits ein inneres Bild oder eine innere Stimme in sich tragen, die Homosexualität als „krank, pervers“ oder „nicht gottgewollt“ bezeichnet. Das löst dann natürlich einen inneren Konflikt aus, der zu einer schweren Identitätskrise bis zu einem instabilen Selbstwertgefühl führen kann, was wiederum einen Vulnerabilitätsfaktor für die Entstehung psychischer Erkrankungen darstellt.
Ich gebe zu bedenken, dass Homosexualität auch heute noch von vielen Menschen verurteilt wird. Leider verstärken sich laut aktuellen Umfragen homophobe Tendenzen wieder in der heutigen Jugend. Auch wenn sich die Gesellschaft verändert und Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgendern weniger diskriminierend gegenüber steht, wirkt noch die jahrzehntelange Stigmatisierung. Ich erinnere nur daran, dass der Paragraf 175 (dStGB), der homosexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern unter Strafe stellte, erst 1994 vollständig gestrichen wurde. Und im ICD-10, dem internationalen Diagnose-Katalog, wurde Homosexualität erst im Jahr 1990 entpathologisiert. In vielen Ländern steht Homosexualität immer noch unter Todesstrafe. Die Welt ist leider noch lange nicht so tolerant wie es wünschenswert wäre.
Dieses Bewusstsein, zu einer Minderheit zu gehören, die vielfach und vielerorts abgewertet wird, führt bei den betreffenden Menschen dann oftmals zu Stress, viel Scham, Selbstverleugnung oder Selbstabwertung. Ein Entwicklungsschritt, den Heterosexuelle in dieser Form nicht gehen müssen, besteht also in der individuellen Auflösung dieser Identitätskrise. Zur Veranschaulichung denke man zum Beispiel an die erste Liebe. Wenn sich ein schwuler Jugendlicher in der Schule verliebt, steht er vor anderen – inneren und äußeren – Herausforderungen als sein heterosexueller Klassenkamerad.
Die eigene homosexuelle Orientierung kennenzulernen und mit dieser dann in einem heteronormativen Umfeld einen Umgang zu finden, stellt wohl eine lebenslange Entwicklungsherausforderung dar. Wenn sich der schwule Mann zu einem Coming Out entscheidet – und nicht alle tun das – dann ist auch das ein Prozess, der nie abgeschlossen ist, und oftmals in Etappen verläuft; das heißt, dass sich die meisten Schwulen nicht gleich bei jedem oder überall outen, sondern phasenweise. Dabei spielt die Art der Beziehung natürlich eine wichtige Rolle. So ist das Outing bei den eigenen Eltern, der Familie oder den Freunden ein wichtiger Schritt, der mit viel Aufregung, Angst und Frustration, aber auch Freude, Liebe und Anerkennung verbunden sein kann. Auch hier wird gleich deutlich, dass Schwule einen besonderen Ablöse- und Entwicklungsprozess durchmachen müssen. Oder kennt jemand einen Jugendlichen, der davor Angst hatte, sich bei seinen Eltern als heterosexuell zu outen?
Doch mit diesem ersten Coming Out im nahen Umfeld ist es ja nicht abgeschlossen, sondern bleibt eine lebenslange Aufgabe. Denn jeder Tag im Leben eines Schwulen kann zu einem neuen Coming Out werden, zum Beispiel an einem neuen Arbeitsplatz, aber auch in jeder Alltagssituation, in der der Schwule auf heterosexuelle Menschen mit ihren als selbstverständlich angenommenen heteronormativ geprägten Lebenseinstellungen trifft.
Ich könnte noch viel erzählen, zum Beispiel, dass Schwule natürlich auch in Bezug auf Partnerschaft, Familienplanung, Arbeitswelt oder die Stigmatisierung als HIV-Kranke vor anderen Herausforderungen stehen als heterosexuelle Menschen. Doch das würde zu weit führen. Ich hoffe, ich konnte die Frage dennoch ein wenig beantworten, vor allem aber die Komplexität der Entwicklungsschritte aufzeigen, die Schwule im Laufe ihres Lebens durchmachen können.
2. Im Ausschreibungstext steht, dass Sie mit „kreativen Methoden im gruppendynamischen Setting“ arbeiten werden. Was können sich die Teilnehmer darunter vorstellen?
Wir werden zum Beispiel kunsttherapeutisch arbeiten, also mit spontan gemalten Bildern. Dabei sind keinerlei künstlerische Fertigkeiten vorausgesetzt. Der Vorteil der Kunsttherapie besteht darin, dass sich in Bildern oftmals vorbewusste oder auch primärprozesshafte Inhalte der Psyche abbilden, mit denen dann gut weitergearbeitet werden kann. Daneben werden wir aber auch Übungen aus der Körpertherapie, der Gestalttherapie oder Ritualarbeit anwenden. Das hängt auch ein bisschen von den Erwartungen der Gruppe ab. Da werden wir individuell auf den Gruppenprozess eingehen. Auch Gesprächsrunden sind eingeplant. Was ich auf jeden Fall versichern kann, ist, dass wir ganzheitlich arbeiten – also ganz im Sinne des Heiligenfeld Psychotherapiekonzeptes Körper, Geist und Seele mit einbeziehen werden.
3. Was können die Teilnehmenden aus diesem Seminar mitnehmen?
Was ich mir wünsche, ist, dass die Teilnehmenden die Gewissheit oder vielleicht auch nur die Ahnung mitnehmen, dass alles, was sie für ein gesundes und glückliches Leben brauchen, bereits in ihnen ist – was immer das für einen selbst dann heißen mag. Die Teilnehmenden sollen die Möglichkeit haben, sich selbst bezüglich ihrer sexuellen Orientierung und der damit verbundenen Lebensgestaltung reflektieren und selbst definieren zu können – in einem geschützten, wertfreien Raum. Wenn sie diese Erfahrung dann mitnehmen in den Alltag, ist das schon eine Menge. Natürlich wünsche ich mir auch, dass sie zufriedener mit sich sind, sich selbst mehr annehmen können oder wieder mehr Zuversicht im Leben spüren. Doch ich weiß ja noch gar nicht, mit welchen Erwartungen die Teilnehmenden ins Seminar kommen. Insofern sind meine Gedanken einfach ins Blaue gesprochen. Also ganz einfach formuliert: Schön wäre, wenn sich die Erwartungen der Teilnehmenden an das Seminar erfüllten.